Montag, 30. März 2020

Corona: Stichprobe oder Springt der Elefant von der Klippe?

Caveat lector, der oder die Lesende sei gewarnt. Während in einem früheren Blog ein rechtes Stück Mathematik abverlangt wurde, ist der "flavor of the day" nicht Vanilla sondern ein wenig Latein-Stracciatella.  Wie man weiter unten sehen wird, ist die Botschaft dieses Blogs ziemlich einfach und schnell erzählt. Gerade deshalb werde ich zum Schwadronieren verleitet. Gardini (2018) plädiert für das Studium des Lateins um seiner Schönheit willen und nicht wegen seines Nutzens. Zum Nutzen im allgemeinen kommen wir noch.

In der Aeneis von Publius Vergilius Maro, kurz Vergil, heisst es über Tarus, den Aeneas töten wird: "exsuperat magis aegrescitque medendo" also er brauste noch mehr auf und erkrankte durch die Heilung. Medendo ist ein Gerundium vom unvollständigen Deponens mederi, heilen (das Wort medicus ist nicht weit weg). Der zweite Teil, aegrescitque medendo, wird meist gegenwärtig verstanden als: Die Kur ist schlimmer als die Krankheit.

Damit sind wir wieder beim allgegenwärtigen Covid-19 und seinen Folgen. Die Kur besteht in den immer weiter verschärften Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Infektion. Diese gehen an die Grenze des psychologisch und emotional Erträglichen und führen sicher zu enormen wirtschaftlichen Verwerfungen, die auch im Zeitverlauf kaum absehbar sind. Momentan herrscht ein Konsens, dass die Gesundheit der Wirtschaft Vorrang hat, respektive das wirtschaftliche Problem nur mit hohen Liquiditätsspritzen überbrückt werden kann. Die Metapher von der Brücke unterstellt, dass wenn man drüben ist, alles wieder wie bis anhin weitergeht.

Es wird aber der Augenblick kommen, an dem man entscheiden muss, die wirtschaftliche und soziale Tätigkeit wieder hochfahren zu wollen, möglicherweise in Stufen. Hier kommt man zu einer Abwägung, die der Staat nur hinter verschlossenen Türen, wenn überhaupt, führt, sie nie an die grosse Glocke hängt. Den Ökonomen ist natürlich klar, dass ein jeder Staat mit knappen Ressourcen umgehen muss und nicht alle Begehrlichkeiten befriedigen kann. In gewisse Abwägungen kommt dann der Wert des Lebens zur Sprache. Es sind meist unangenehme Probleme, die man frigido pacatoque animo angehen muss: Der Kanton möchte mit einer Investition von 300'000 eine Leitplanke errichten. Zwei Kurven haben dieselbe Charakteristik, nämlich ein Todesopfer alle 10 Jahre. Eine Gemeinde hat ein durchschnittliches Steuersubstrat von 200'000 pro Kopf, die andere von 100'000. Wo platziere ich die Leitplanke?

Im Laufe der Zeit haben sich zwei Hauptkonzepte für den Wert des Lebens herausgebildet (Robinson, 1986), nämlich:
  • die Humankapital-Betrachtung und
  • die Zahlungsbereitschaft (Willingness-to-pay).
Das Humankapital wird als Barwert des künftigen Einkommens, unter Einbezug der Sterbetafel und anderer Faktoren, bestimmt und als Wert des Lebens identifiziert. Die ökonomische Philosophie dahinter ist das "Laissez-Faire" eines Staates, der das "Wealth-of-Nation" maximiert, konkret etwa die USA. Damit ist auch die Platzierung der Leitplanke beantwortet.

Die Zahlungsbereitschftstheorie geht von den subjektiven Preisen aus, welche die Individuen auch für das Leben zu zahlen bereit sind. Meist nimmt die Bereitschaft mit steigendem Alter ab, wird aber durch die höhere Zahlungsfähigkeit wieder aufgewogen. In den meisten europäischen Ländern verwendet man diesen Rahmen. Beide Konzepte sind in der Nutzentheorie von Jeremy Bentham eingebettet (siehe Hirshleifer, 1984). Der Empfohlene Wert der Zahlungsbereitschaft für die Verminderung des Unfall- und Gesundheitsrisikos in der Schweiz beträgt 6.7 Mio. CHF.

Nun wäre es allerdings wichtig, die Mortalität von Sars-CoV2 zu kennen. Diese ist nur mit grossen Margen zu schätzen, denn die genaue Zahl von Toten steht keiner genauen Zahl von Infizierten gegenüber.

Wie die Abb. 1 anhand aktueller Zahlen zeigt, kann man die Anzahl Toter im Verhältnis zu den Infizierten nicht als Schätzer für die Mortalität verwenden. Zum einen hängt die Zahl von der Anzahl und der Systematik der Test ab. Unter Knappheit von Testmöglichkeiten, sei es wegen der Test-Kits sei es der Laborkapazität, wird  nur ein Stratum, eine Schicht, wie der Statistiker sagt, analysiert. Aber auch der Zähler, die Todesfälle, kann unterschiedlich definiert sein, denn sehr Häufig liegt eine sogenannte Komorbidität vor. Für die Erforschung dieser Infektion scheint es aber sinnvoll, alle Fälle mit Covid19 auch nur als Kofaktor als solche zu kategorisieren.

Zum dritten sind die Kurven zeitlich verschoben, weil sich die Ausbreitung in verschiedenen Stadien befindet, alle allerdings im Eindämmungsmodus. Die Möglichkeit, einzelne Infektionen mitsamt ihrer Übertragungskette zu isolieren, ist vorbei.
Abb. 1: Tote im Verhältnis zu den Infizierten (eigentlich positiv Getestete).


Abb. 2: Tote im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Für Norditalien muss man einen Faktor von mindestens 1.5 hinzumultiplizieren.

Aufgrund der Knappheit von Tests zur Feststellung des Vireninfekts wurden diese diagnostisch für Personen mit mindestens zwei typischen Symptomen und der Zugehörigkeit zu den Risikogruppen oder dem behandelnden Personal verwendet. Ein zweiter Test kann das Vorhandensein von Antikörpern finden und damit die Überwindung der Infektion dokumentieren. Die ausschliesslich diagnostische Verwendung der Tests ermöglicht keine genau Schätzung der Parameter, so dass die Massnahmen und deren Konsequenzen nicht präzis genug getroffen und vorhergesehen werden können.

Es wird immer wieder von Experten vermutet, die Anzahl Infizierter oder Genesener sei viel höher als die Anzahl Getesteter. Diese Lücke beschreibt die asymptomatischen oder nur gering symptomatischen Patienten. Es wird von Faktoren von 10 bis 20 gesprochen. Die Abb. 2 lässt eine solche Vermutung plausibel erscheinen. Es ist absolut essenziell, sobald genügend Testsets vorhanden sind, eine oder mehrere statistisch relevante Stichproben zu ziehen.

Das Design von Stichproben ist eine hohe Kunst, vor allem wenn man sie effizient und unter Einbezug belastbaren Vorwissens gestalten will. Grob gesprochen unterscheidet man reine Zufallsstichproben (random sample), bei denen die Zufälligkeit das Problem ist, und geschichteten (stratifizierte) Zufallsproben. Die Antworten oder Schlussfolgerungen hängen auch davon ab, ob man auf das Virus testet oder auf die Antikörper. Wichtig sind Erkenntnisse, die man für das Wiederhochfahren der Wirtschaft brauchen kann. Am Point-de-Presse vom 30.3.2020 hat der verantwortliche Beamte, Dr.med. Daniel Koch, wenig Einsicht für ein solches Vorhaben gezeigt, leider.

Der Stanford-Epidemiologe und Statistiker John Ioannidis, ein zum Teil unbeliebter Rigorist (Ioannidis, 2005), hat in einem Artikel (Ioannidis, 2020) die Situation einer massiven Überreaktion der Massnahmen angesichts der Wirtschaft folgendermassen beschrieben:
It’s like an elephant being attacked by a house cat. Frustrated and trying to avoid the cat, the elephant accidentally jumps off a cliff and dies.
Die Hauskatze ist das Massnahmenpaket zur Eindämmung der Infektion und der Elefant ist die Wirtschaft. Ob diese Sicht der Dinge in der Realität besteht, ist noch wenig klar. Vorsichtshalber sollte man vor Vorliegen von wissenschaftlich erhobenen Daten dem Elefanten keine Lockerungen zugestehen.

Wie Marcus Tullius Cicero schon anmerkte, besteht für den Kranken Hoffnung solange er atmet: Aegroto dum anima est spes est. Und wenn nicht, kann uns Morpheus helfen bei der ars bene moriendi.


Postscriptum

Diejenigen, die nur das Latein für Angeber beherrschen, straucheln dann spätestens bei der u-Deklination. Dann hört man von den verschiedenen Stati. Das ist dann mal das Partizip Perfekt im Plural zum Verb stare. Der Plural von status ist statu(u)s. Das Wort virus, Gift, im Latein ein Neutrum, besitzt keinen Plural und lautet auch virus im Akkusativ.

Literatur

Gardini, N. (2018). Viva il latino : storie e bellezza di una lingua inutile. Milano: Garzanti.


Hirshleifer, J. (1984). Price theory and applications. Englewood Cliffs, N.J: Prentice-Hall.

Ioannidis J. P. (2005). Why most published research findings are false. PLoS medicine2(8), e124. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.0020124

Ioannidis, J. P. (2020). In the coronavirus pandemic, we're making decisions without reliable data. Retrieved 28 March 2020, from https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coronavirus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/

Robinson, J. (1986). Philosophical Origins of the Economic Valuation of Life. The Milbank Quarterly, 64(1), 133-155. doi:10.2307/3350008

Daten

https://github.com/CSSEGISandData/COVID-19/tree/master/csse_covid_19_data/csse_covid_19_time_series


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