Dienstag, 5. April 2016

Von Innumeraten und stolzen Ignoranten

Auch wer sich im Gymnasium im Latein nicht mit Ruhm bekleckert hat, erkennt unschwerlich, dass das Wort "innumerat" aus dem Präfix "in" mit der Bedeutung "nicht" und numerare, dem Verb für zählen gebildet ist. Zu uns herüberkommen ist es aus dem Englischen "innumeracy", wo es ein Analogon mit "illitteracy", also Analphabetentum, bildet. Ein Innumerat ist also ein Zahlen-Analphabet, horribile dictu. Wie bei den Buchstaben gibt es den funktionalen Innumeraten, der zwar die Zahlen {0,1,...,9} (Buchstaben) und die Bildungsregeln für grössere Zahlen (Wörter) kennt, aber eben Argumentationen mit Zahlen nicht versteht oder aus Zahlen keine Argumente ableiten kann. Zahlen sind aber erst der Anfang; eine Weiterführung bilden die Modelle, unter denen die Sterbetafel konzeptionell einfach ist aber mit weitreichenden Folgen.

Seit den 80er-Jahren sind einige Spezialisten (Hofstadter, 1982; Paulos, 1988) hinsichtlich der Innumeratik sehr besorgt, während die Gesellschaft völlig unbetroffen erscheint und kein Problembewusstsein zeigt. "Mathematik ist eine Schlüsselwissenschaft, die Fortschritt und Wohlstand garantiert", sagt Prof. Albrecht Beutelspacher, ein deutscher Mathematik-Didaktiker. Das ist die eine gesellschaftliche Dimension. Eine andere ist die Wirkung der Zahlen auf die Poltiken. Wenn die Infektionsrate abnimmt sollte man die Informationskampagne einstellen? Hängt diese womöglich von der Anzahl schon Infizierter ab? Wenn alle infiziert sind, ist die Infektionsrate wieviel? Soll man die vorsorgliche Mammographie flächendeckend einführen, ein Atomkraftwerk stillegen, die Pensionskasse sanieren?

Sowey (2003) meint, dass nicht die mathematische Manipulation von Zahlen oder Variablen, d.h. Zahlen darstellende Symbole, nicht das Wesentliche des Innumeraten-Problems sind. Es ist die Fähigkeit, korrekte Schlussfolgerungen aus einem logischen, mit Zahlen eingebetteten Problem zu ziehen. Wenn zudem ein Problem im Kontext unserer ungewissen Umwelt situiert ist, dann wird es zu einem statistischen Argument.

Paulos (1989) schreibt in einem Artikel, der seinen Best-Seller (Paulos, 1988) voranging, dass die hohe Abstraktion der mathematischen Modelle der Ursprung des Innumeraten-Phänomens bilden :
Whether literary types are more prone to innumeracy or not, it’s certain that the abstractness of mathematics is a great obstacle for many intelligent people. Such people may readily understand narrative particulars, but strongly resist impersonal generalities.
Klugerweise umschifft der Autor die Frage nach der Intelligenz (die semantisch nahe dem Lesen von Buchstaben ist). Dennoch ist die Kontraposition hier Erzählung versus Abstraktion. Das Wort Abstraktion leitet sich her vom Losgelöst-Sein (das kling beinahe Heideggerianisch). Man könnte die Mythen als Übersetzung eines unverständlichen Sachverhalts in eine Erzählung verstehen. Zum Beispiel die Entstehung der Welt als Epik oder aber als kosmologische Formel. 

Ist es eine Sache des Temperaments, ob man Erzähler oder abstrakter Denker ist oder ist es die Erziehung (Blut oder Boden, Genetik oder Milieu)? Diese Diskussion wurde schon mal von Snow (1967) angeworfen. 

Was sind die Gründe für das weitverbreitete Innumeracy, vor allem in sehr abstrakten Gefilde der Statistik? Paulos (1989) weist auf die kulturelle Haltung hin:
The most obvious causes of innumeracy are poor education and “math anxiety” but the deeper sources are prevailing cultural attitudes, in particular misconceptions about the nature of mathematics. These attitudes and misconceptions lead to an intellectual environment that welcomes and even encourages inadequate mathematical education and pride in ignorance.
Es wird argumentiert, dass die mathematische Erziehung unangemessen sei. Das muss sich vor allem auf die Rahmenbedingungen und auf die Intensität beziehen. Es ist aber unakzeptabel, dass in der Grundschule die Beurteilung des Lesens und Schreibens mit zehn Kategorien (Leseverständnis, ...) bewertet wird und die Mathematik mit einer summarischen. Es gäbe durchaus Anlass genug, in Rechenfähigkeit, Logik, Abstraktion, räumlich Vorstellung etc. zu differenzieren. Anderseits werden Grundschüler zu Rechenautomaten, die eine Algorithmus abspulen können. Auf einem Bild von einem Schiff sind 12 Ziegen und 16 Schafe zu sehen: wie alt ist der Kapitän? Regelmäßige Antwort 28 (Spiegel und Selter, 2003, 11). Wieso kommt es zu diesen Antworten? Befragungen zeigen, dass die Kinder davon ausgehen: in der Mathe-Stunde machen wir immer Additionen, hier kann man addieren, also addiere ich; das kann doch nicht falsch sein. Anderseits wenn sie mit Geldeinheiten rechnen müssen, sind die Antworten nicht so frivol.

Der Stolz der Ignoranten ist aber unverzeihlich, denn sie verstehen nicht, welchen großen Ausschnitt aus der menschlichen Entwicklung sie nicht zu schätzen wissen. Dass Naturwissenschaften und Mathematik auch intellektueller und ästhetischer Genuss sein können, bleibt vielen verschlossen. Bücher wie "Bildung: Alles was man wissen muss" (Schwanitz, 1999) sind eine Provokation, denn sie enthalten nicht viel über Sciences. Die Reaktion "Die andere Bildung: Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte" hat sicher nicht die gleiche Verbreitung erlangt. Und übrigens ist Mathematik keine Naturwissenschaft sondern ein, die Geisteswissenschaft. Seit Galileo ist sie Stütze und Sprache vor allem der Physik, vorher war sie im Westen Hilfswissenschaft der Theologie (Niklaus von Kues).

Sowey (2003) gibt ein paar gute Gründe an, die sich auf das Schulsystem beziehen. Schon früh an haben die späteren Innumeraten die zweifelsfreie Vorstellung verinnerlicht, wonach alles in Zahlen ausgedrückte präzis und genau ist.  Allerdings ist das signifikante Problem in der Regel nicht, ob eine Zahl genau ist, sondern ob sie korrekt ist. Diese Fehlkonzeption ist tief verwurzelt. Was Mathematik betrifft, legen viele Menschen  ihrer sonst natürliche Skepsis zugunsten eines unreflektierten Gehorsams beiseite. Während sie die mathematischen und numerischen Ergebnisse nicht wirklich verstehen, gewöhnen sich viele daran, die Zahlen einfach zu akzeptieren. Notorisch sind die Resultate von Textaufgaben^, wonach die Mutter 325 kg schwer und der Radfahrer mit 250 km/h unterwegs ist. Es fehlt die MetakognitionUnd weiter zur noch schwierigeren Statistik schreibt er:
And how do strongly innumerate people respond to a statistical argument? Here again, one may hypothesise the residual influence of the school mathematics experience. Children learn mathematical theorems and, at the same time, they learn that (under given assumptions) these theorems are always true. But, surprisingly, they are rarely taught why these theorems are always true, namely because they rely on deductive logic – which is, moreover, only one of an array of logics of systematically lesser reliability (deduction, induction, analogy, intuition, . . . ). Not knowing that statistical arguments are inductions, statistically illiterate people assign to such arguments the same status as the deductive theorems of their school days, and thus hold the conclusions to be beyond question.
Wer sich ein wenig in der Erkenntniswissenschaft auskennt, weiß welche ideologischen Kämpfe um die Induktion und die Deduktion ausgetragen wurden. Ein Hauptakteur ziert heute einen Edelrasiermesser, Ernst Mach*. Ein anderer, "Suchergebnisse
Empiriokritizismus", ist Lenin (Sexl, 1988; Passmore, 1994). Es ist eine Tatsache, dass die Mittelschulen nicht wirklich in das Universum des Zufalls und seiner Fassung eintauchen. Es gibt für das Verhältnis von Stochastik zu Determinismus etwa dasselbe wie zwischen nicht-linearen Funktionen zu linearen: das vermeintliche ist der Spezialfall**. Induktion ist das Hauptthema der schließenden Statistik, die Resultate sind probabilistisch (Bayes und persönliche Wahrscheinlichkeiten) oder "signifikant" und innerhalb von Konfidenzwerten (Frequentisten). Oder kurz, die Resultate sind ohne Hintergrundwissen schwer zu verstehen. Dennoch schlucken wir Medikamente, die solchen Tests standgehalten haben. Das ist nur ein Fingerzeig auf die Relevanz von induktiven Methoden.

Es gibt aber auch ein bisschen Hoffnung, nämlich dann, wenn man sich die Mühe nimmt, die beste, dem Menschen kongeniale Darstellung des Problems zu suchen. Das folgende Beispiel dient als Illustration. Gigerenzer (2008, 174) zeigt zwei verschiedene Darstellungen desselben Problems: Pingping kommt in ein kleines Dorf und fragt nach der richtigen Richtung. Erste Darstellung:
In diesem Dorf ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Einwohner lügt, 10%. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lügner eine rote Nase hat, ist 80%. Von den ehrlichen Einwohnern haben 10% auch eine rote Nase. Pingping trifft eine Person mit roter Nase. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie lügt?
 Zweite Darstellung:
Pingping kommt in ein kleines Dorf und fragt nach der richtigen Richtung. In diesem Dorf lügen 10 von 100 Einwohnern. Von den 10 Lügnern haben 8 eine rote Nase. Von den restlichen 90 Einwohnern, die nicht lügen, habe 9 eine rote Nase. Pingping trifft eine Gruppe von Einwohnern mit roten Nasen. Wie viele von denen sind Lügner?
Die Antwort is ja beinahe aufgelegt, nämlich 8/17. Zur ersten Darstellung ergibt sich mit "l" für liar und "r" für red-nosed :
Es ist aber noch eine höhere Kunst, ein Problem in eine einfache Darstellung zu bringen.

Aber das Schlimmste, das Schlimmste ist das Halbwissen! Diejenigen, die eine seichte mathematische und vor alle statistische Bildung genossen haben. Sie haben ihr Erkenntnisse in eine Mischung von Teil-Wahrheiten und plausiblen Schein-Wahrheiten weiterentwickelt. 
Offensichtlich ist es unwahrscheinlich, dass statistische Argumente, die mit intuitiven Mitteln beurteilt werden, zu tiefer Erkenntnis führen können. Der alljährliche Tiefpunkt ist dann erreicht, wenn grosse Firmen ihre Mitarbeiter bewerten sollen. Irgend ein Halbgebildeter in Führungsposition hat die Losung herausgegeben, dass die Qualifikationen der Mitarbeiter normal-verteilt sind. Dieses Prinzip wird bis in die kleinste Gruppe von vielleicht vier Mitarbeitern eingefordert. Das Prinzip funktioniert aber gerade umgekehrt; im Kleinen können die Verteilungen beinahe beliebig sein, im Großen manifestiert sich (bei ziemlich allgemeinen Voraussetzungen), dass die Verteilung durch eine normale angenähert werden kann.

Zum Schluss eine Aufgabe***: Wenn sich der Erdumfang (40,000 km) um einen Meter verlängert, um wie viel erhöht sich der Erdradius?****

Anmerkungen

^) in einem Cartoon von Gary Larson, The far side, Hell's Library besteht die Bibliothek in der Hölle aus lauter Büchern mit Textaufgaben.

*) Die Mach'sche Zahl ist eine dimensionslose Kennzahl für die Geschwindigkeit. Man sagt, die Physik, zumindest eine Bewegungsgleichung, ist erst dann richtig verstanden, wenn man sie dimensionslos darstellen kann.

**) Stanislaw Ulam, ein Freund von Einstein, meinte zu solchen Fehlrelationen: "Using a term like nonlinear science is like referring to the bulk of zoology as the study of non-elephant animals".

***) Ich weiss nicht mehr, wo ich diese Fragestellung herhabe, sorry!

****) Rund 16 cm!


Literaturverzeichnis

Fischer, E. (2002). Die andere Bildung : was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München: Ullstein.

Franzetti, C. (2011). Operational risk modelling and management. CRC Press, Boca Raton.

Gigerenzer, G. (2008). Rationality for Mortals. How people cope with uncertainty. Oxford University Press, New York.

Hofstadter, D. R. (1982). Number numbness, or why innumeracy may be just as dangerous as illiteracy. Scientific American, 246(5), 20–34.

Passmore, J. (1994). A Hundred Years of Philosophy. Penguin, London.

Paulos, J. A. (1988). Innumeracy: Mathematical Illiteracy and Its Consequences. Hill and Wang, New York.

Paulos, J. A. (1989). The odds are you’re innumerate. The New York Times, (1st of January, 1989).

Schwanitz, D. (1999). Bildung : alles, was man wissen muß. Frankfurt am Main: Eichborn.

Sexl, R. (1982). Was die Welt zusammenhält : Physik auf der Suche nach dem Bauplan der Natur. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

Snow, C.P. (1967). Die zwei Kulturen: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Klett-Cotta.

Sowey, E. (2003). The getting of wisdom: Educating statisticians to enhance their clients numeracy. The American Statistician, 57, 89–93.

Spiegel, H. & Selter, C. (2003). Kinder & Mathematik : was Erwachsene wissen sollten. Seelze-Velber: Kallmeyer.

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