Dienstag, 29. März 2016

Kybernetik und Laissez-faire

Der Begriff "Kybernetik" stammt von der griechischen Bezeichnung für den Steuermann.  Im Lateinischen wurde daraus das Verb gubernare und im Englischen das Wort governor und government. Diese Verbindung zwischen der Navigation eines Schiffes* und der Lenkung eines Gebildes, wie etwa einer Unternehmung oder eines Staates,  wurde von Norbert Wiener in den späten 40er Jahren zur Wissenschaft der "Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine" neu gefasst. 

*) Bei seiner in Latein gehaltener Abdankungsrede 2013 verwendetet Papst Benedikt XVI die Worte "ad navem Sancti Petri gubernandam", dessen er nicht mehr fähig sei.


Wieners Zitat kann man paraphrasieren, indem man Lebewesen und Maschine durch "System" und Nachrichtenübertragung durch "Information" oder "Ordnung" ersetzt.


Die Regelung eines Systems wird durch das Blockdiagramm unten dargestellt. Man erkennt das zu regelnde, die "Regelstrecke", und den Regler, der Steuerimpulse nach Maßgabe der Zustandsmessung gibt. Diese werden meist durch externes Rauschen gestört.



Abbildung 1: Allgemeines Blockdiagramm
Das Konzept des Systems war eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Kybernetik. Das Systemdenken ist die Verbindung von Regeltechnik und der Organisation von menschlichem Wissen. Regelung (Feedback control,  siehe Abbildung 1) ist der grundlegende Mechanismus, um ein System im Gleichgewicht (Homeostasis) zu halten.  Regelung könnte man definieren als ein Mechanismus, der Informationen vergleicht und daraus Steuerimpulse zur Zielerreichung ableitet. 

Es gibt zwar Systeme, die von allein im Gleichgewicht bleiben; diese sind Spezialfälle. Beispielsweise gibt es stabile und instabile Flugzeuge. Erstere korrigieren kleine Perturbationen von alleine (Mig 29), letztere kann man ohne Regelung oder besser allein mit menschlicher Regelung nicht fliegen (F/A-18), so dass man bei Beschädigung nur noch aussteigen kann.

Der Regelungsprozess hat vier zyklische Hauptschritte:

1. definiere eine Vorgabe (Zustand, Sollwert),
2. messe den aktuellen Wert der Vorgabe (Istwert),
3. vergleiche Soll- und Istwert,
4. gib korrektiven Impuls,
5. gehe zu Schritt 2.

Das Funktionieren von Regelsystemen hängt von zwei wesentlichen Voraussetzungen ab. Nämlich der Beobachtbarkeit (observability) und  der Steuerbarkeit (Controllability). Beobachtbar heißt, dass Informationen über einen Zustand zur Verfügung gestellt werden. Wie regelt man einen Ofen, wenn die Temperatur nicht bekannt ist? Die offensichtliche Lösung besteht in der Anbringung von zusätzlichen Sensoren. 

Steuerbar heißt, dass man Impulse geben kann, so dass das System bestimmte Zustände in vernünftiger Zeit annimmt. Also mehr Strom erhöht die Temperatur. Ist ein System nicht steuerbar, so kann man keine Maßnahmen treffen, um es in gewünschter Weise zu beeinflussen. Meist kennt man die Stuerimpulse und die Ausgangsmesswerte; der Zustand ist nicht immer genau bekannt. Man spricht dann von einer "Black-Box". Zur Steuerbarkeit gehört noch ein weitere Voraussetzung, nämlich dass der Regler mindestens so variabel ist wie die Regelstrecke (Gesetz von Ashby). Angenommen an einer Kreuzung befinden sich vier Ampeln, von denen aber nur drei geregelt werden. Ist ein störungsfreier automatische Betrieb möglich?


Abbildung 2: Management Control System (Horngren und Foster, 1987, 4)
Das Modell der Regelung ist so generisch, dass nicht nur technische Systeme (Satelliten, Flugzeuge, Verkehrssysteme etc.) beschrieben werden sondern auch soziale, und darunter betriebliche oder makro-ökonomische, sowie biologische. Siehe Abbildung 2 für ein Management Control System. Als Beispiel für ein biologisches dynamisches System studiere man die mathematische Beschreibung für den Haifischbestand in der Adria während des ersten Weltkriegs von Volterra (Siegmund, 1995). 

Die Voraussetzung von System, also Zusammenspiel von Elementen, und Suche nach einem spezifischen Zustand (z.B. Gleichgewicht) ist vielfach gegeben. Hirshleifer (1988, 24) sagt über die Wirtschaftswissenschaft, dass sie eigentliche nur zwei analytische Methoden anwendet, nämlich (1) das Finden eines Optimums oder (2) das Finden eines Gleichgewichts.

Wie schon erwähnt, ist dieses Modell in den 40er-Jahren konkretisiert und formalisiert worden. Umso interessanter ist zu beobachten, dass schon viel früher Denker wie Adam Smith systematisch von dieser Regeltheorie ante definitionem in ökonomischen Fragestellungen Gebrauch machten (Mayer, 1971). Ein Beispiel ist die Beschreibung des Marktmechanismus, der die Produktion steuert und damit Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringt. 


Abbildung 3: Modell von Adam Smith
Die Abbildung 3 zeigt in moderner Blockdiagramm-Manier den gesamten Gedankengang. Adam Smith geht von einem marktgängigen Produkt ("Commodity") aus, das zu den vollen Kosten n erzeugt werden kann. Darin sind die Kosten für Boden, Arbeit und Kapital sowie Rohstoffe enthalten. Er nennt diese Grösse n "natural price" (Smith, 91, 49):
When the price of any commodity is neither more nor less than what is
sufficient to pay the rent of the land, the wages of the labour and the
profits of the stock employed in raising, preparing and bringing it to market,
according to their natural rates, the commodity is then sold for what may be
called its natural price. (...)
The actual price at which any commodity is commonly sold is called its market
price. It may either be above, or below, or exactly the same with its natural price.
Nun erkennt er an, dass am Markt eben ein Marktpreis m für das Produkt geboten wird, der von n abweichen kann. Er argumentiert, dass der Marktpreis m eine Funktion der Diskrepanz zwischen Angebot c und Nachfrage ("effectual demand") r ist, also m=f(r-c) (Smith, 891,49):
The market price of every particular commodity is regulated by the proportion
between the quantity which is actually brought to market and the demand of
those who are willing to pay the natural price (...) Such people may be called the effectual demanders and their demand the effectual demand(...)
Er erklärt für die Fälle von zu geringen Angebot, d.h. r-c>0, wie der Preis steigt (Smith, 1991, 49):
When the quantity of any commodity which is brought to market falls short of
the effectual demand, all those who are willing to pay the whole value of the
rent, wages, and profit, which must be paid in order to bring it thither,
cannot be supplied with the quantity which they want. Rather than want it
altogether, some of them will be willing to give more. A competition will
immediately begin among them, and the market price will rise more or less above the natural price, according as either the greatness of the deficiency, or the wealth and wanton luxury of the competitors, happen to animate more or less the eagerness of the competition. 
Er analysiert dann  die Verhältnisse, falls das Angebot die Nachfrage übersteigt. Hier ist der Preis die Führungsgröße für die Produktion. Er setzt mit der Funktion der Produktion an, indem er den Output c als Funktion des Differentials zwischen Marktpreis m und Vollkosten n ansetzt, also c=g(m-n) (Smith, 91, 50):
If at any time it exceeds the effectual demand, some of the component parts of
its price must be paid below their natural rate. If it is rent, the interest of
the landlords will immediately prompt them to withdraw a part of their land; and
if it is wages or profit, the interest of the labourers in the one case, and of
their employers in the other, will prompt them to withdraw a part of their
labour or stock from this employment. The quantity brought to market will soon
be no more than sufficient to supply the effectual demand. All the different
parts of its price will rise to their natural rate, and the whole price to its
natural price.
If, on the contrary, the quantity brought to market should at any time fall
short of the effectual demand, some of the component parts of its price must
rise above their natural rate. If it is rent, the interest of all other
landlords will naturally prompt them to prepare more land for the raising of
this commodity (...) The quantity brought thither will soon be sufficient
to supply the effectual demand. All the different parts of its price will soon
sink to their natural rate, and the whole price to its natural price.
Er schließt dann mit der Aussage, dass der natürliche Preis, alle Kosten der Inputfaktoren zu Inputpreisen, der Attraktor ist, in deren Schwerefeld die Marktpreise sich befinden. Die Vollkosten sind der Gleichgewichtspreis, der den Markt räumt. 

Um das Modell noch zu komplettieren konzediert er, dass der natürliche Preis von Zufälligkeiten überlagert ist, einem Rauschen (Smith, 91, 51). Damit gibt es auch hier eine stochastische Komponente, die das Gleichgewicht stört.
The natural price, therefore, is, as it were, the central price, to which the
prices of all commodities are continually gravitating. Different accidents may
sometimes keep them suspended a good deal above it, and sometimes force them down even somewhat below it. But whatever may be the obstacles which hinder them from settling in this center of repose and continuance, they are
constantly tending towards it. The whole quantity of industry annually employed in order to bring any commodity to market, naturally suits itself in this manner to the effectual demand. It naturally aims at bringing always that precise quantity thither which may be sufficient to supply, and no more than supply, that demand.
Die Argumentation ist für heutige Leser eher trivial, wie es auch die sehr einfachen mathematischen Zusammenhänge sind. Das ist hier auch nicht so wichtig. Das Wesentliche ist der angewendete Rückführungsmechanismus, das Zirkuläre, das die einfachen Kausalketten transzendiert. Smith hat diese Argumentation wiederkehrend und systematisch verwendet.

Um langsam auf die Versprechungen des Titels einzuschwenken, muss man feststellen, dass der Regler hier keine Person oder Institution ist. Das Gleichgewicht stellt sich von alleine ein, ohne einen spezifischen Akteur, respektive dem "Markt", einer virtuellen Größe, aus den Marktteilnehmern gebildet. Smiths Werk ist mehr ein normatives Postulat als ein positive Erklärung. Sein Ziel ist es 1776, die Politik weg vom Merkantilismus, d.h. einem stark durch staatliche Eingriffe geprägten Wirtschaftsmodell zur Zeit des Absolutismus, hin zur "natürlichen Freiheit" zu bewegen. Der Staat soll Nachtwächter sein, nicht in das wirtschaftliche Geschehen eingreifen. Diese Forderung wird in wiederkehrendem Abstand immer wieder als Erfolgsrezept gefordert. Die jetzigen Befürworter nennt man Neo-Liberale. Dieses Gleichgewichtsmodell dient als eine plausible Begründung.



Literaturverzeichnis

Franzetti, Claudio (2011). Operational risk modelling and management. Boca Raton: CRC Press.

Hirshleifer, Jack, and Michael Sproul (1988). Price theory and applications. Englewood Cliffs, N.J: Prentice Hall.

Horngren, C. & Foster, G. (1987). Cost accounting : a managerial emphasis. Englewood Cliffs, N.J: Prentice-Hall.

Mayr, O. (1971). Adam Smith and the concept of the feedback system. Technology and Culture, 12, 1–22.

Sigmund, K. (1995). Games of Life. Explorations in Ecology, Evolution and Behaviour. Penguin, London.

Smith, A. (1776; 1991). An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Everyman’s Library Alfred A. Knopf, Inc., New York.

Volterra, V., Leçons sur la théorie mathématique de le lutte pour la vie. Paris 1931