Sonntag, 27. März 2016

Erregung durch Potential

Ganz zu Beginn eine Klarstellung: der Titel bezieht sich nicht auf eine Fragestellung der Elektrotechnik sondern des Personalwesens. Dies soll die Elektrotechniker aber nicht davon abhalten weiterzulesen. Wessen Geist in abwegige Gefilde abgetriftet ist, sage ich: "honni soit qui mal y pense!"

Bei der Beurteilung von Personen oder Firmen stellt man sehr gerne auf den "Track-Record" (eine sportliche Metapher) ab. Bei einer Kreditvergabe sind positive Angaben zum Finanzgebaren von mindestens drei Jahren beizubringen. Bei einem Sportler oder einem Firmenmitarbeiter kann man dessen Wert erst mit ein paar Jahren Erfahrung beurteilen. Eigene verlässliche Erfahrung ist der beste Schätzwert für die Zukunft. Soweit zur landläufigen Meinung.

Der Stanford-Professor Zakary Tormala hat beobachtet, dass beim Sport diese Logik nicht immer angewendet wird: universitäre Amateure werden mit erheblichen Summen ins Profigeschäft geholt. Hier steckt das Potential, die Möglichkeit, die sich in der Zukunft manifestieren wird (oder auch nicht). Ein Salär-Vergleich mit den gestandenen Profis zeigt, dass häufig verhältnismäßig zu viel bezahlt wird. Davon  ausgehend, hat Tormala sowohl Labor- als auch Feldstudien durchgeführt. Er sagt zur Studienanordnung:
In a series of experiments set in different contexts, we found that high potential can be more appealing than equally high achievement. Our studies uncovered this in situations ranging from basketball player evaluations to hiring decisions, to salary offers, to grad school admissions recommendations. We also saw it in perceptions of artistic talent and in people's intentions to try a restaurant. In general, potential seems to engender greater interest than achievement. 
Beispielsweise wurde in einer Laborsituation folgendes festgestellt:
... in one study we showed the exact same (impressive) stats for a hypothetical NBA basketball player and merely described those stats as predictions or as actual performance records. We found that participants thought the player was more likely to end up an All-Star one day when they'd seen predicted rather than actual stats.
Ein anderes Testbeispiel war die Beurteilung eines Stellenbewerbers aufgrund einer Punktzahl aus zwei Beurteilungen mit den Namen: "Assessment of Leadership Potential" und "Assessment of Leadership Achievement." Erstere Beurteilung führte zu besseren Ergebnissen des Bewerbers. Oder die Anzahl von positiven Meldungen bei zwei Komikern. Bei einem hieß es, Kritiker sagten: "he has become the next big thing," wogegen beim zweiten stand, Kritiker sagen, "he could become the next big thing". Drei bis fünf Mal mehr likes beim zweiten.

In der Wirtschaftwissenschaft und deren Entscheidungstheorien wird häufig mit Nutzen- und Schadenfunktionen in einem als "Risiko" oder "Ungewissheit" kategorisierten Umfeld gearbeitet. Risiko ist nach Frank Knight eine Umwelt, deren möglichen Zustände mit Wahrscheinlichkeiten benannt werden können, wogegen Ungewissheit keine Wahrscheinlichkeiten zulässt. Durch Donald Rumsfeld bekannt geworden, gibt es noch eine Ungewissheit, deren Existenz wir noch gar nicht erahnen. Kurzum: es gibt keine plausible Erklärung dafür, dass man 100 sichere Euro zugunsten 100 unsicherer Euro aufgibt. 

Hier kann man aber schon wieder lernen, dass Economics den Erkenntnissen der Psychologie und Soziologie um Jahrzehnte hinterher hinkt. Der homo ist nicht ökonomisch!

Was sind also mögliche Erklärungen für das nicht intuitive Verhalten? Nach Tormala gibt es eine recht tragfähige Erkenntnis in der psychologischen Literatur, wonach ungewisse Resultate das Interesse, die Informationsverarbeitung, das Nachdenken stärker stimulieren als gewisse Tatsachen. Wenn also Potential dem "Aktual" entgegentritt, dann wird das Denken engagierter, ja sogar freudiger und damit erregter.

Es gibt weitere Forschung, die sicherstellt, dass man nicht primär den Unterschied zwischen alt und jung misst. Anderseits gibt es Industrien und Situationen, die extrem risikoavers sind. Hier greift diese Logik viel weniger. Wer möchte schon einen "High-Potential" im Atomkraftwerk?

Dennoch:
If you're recommending someone for a job, a promotion, or admission to graduate school, it would be wise to highlight that person's potential.
Und was ist die Moral der Erkenntnis? Man sollte häufiger die Stelle wechseln, solange man noch als Potential wahrgenommen wird. Man riskiert, seine Beförderung durch einen Quereinsteiger zu verpassen, denn hier entsteht ja gerade diese irrationale Vergleichs-Situation. Für wenige trifft zudem zu, dass sie noch viel besser sind als ihr bisheriges Arbeitsumfeld es zulässt.



Literaturverzechnis

Elizabeth MacBride. Insight Stanford BusinessZakary Tormala: Mere Potential Can Be More Important Than Achievement : It's not always what you’ve done that matters, but what you just might do.
March 31, 2014

Zakary Tormala, J.S. Jia, M.I. Norton. Journal of Personality and Social Psychology. October 2012Vol. 103Issue 4,Pages 567-583