Donnerstag, 7. April 2016

Rechtschreifehler und Macht

Es ist eine allgemeine Tatsache des Berufslebens, dass sich Rechtschreibfehler einschleichen. Da die Schrift ein Medium ist, also zwischen zwei oder mehreren Personen als Schriftstück vermittelt, macht der Schreiber den Fehler und der Leser erkennt ihn oder auch nicht.

Bekanntlich und aus eigener Erfahrung sind die Fehler inhaltlich völlig irrelevant. Die Fälle, in denen die Fehlschreibung wichtig ist, bilden die Ausnahme von der Regel. In Sinne von sola scriptura ist das Wort Gottes natürlich ein Spezialfall. Hier kennt der Gebildete die englische Ausgabe der King-James-Bible von 1631, worin eines der Zehn Gebote mit "Thou shalt commit adultery" wiedergegeben wurde. Obwohl die fehlerhaften Exemplare eingesammelt und verbrannt wurden, werden die wenigen überlebenden Exemplare unter Bibliophilen teuer gehandelt. 

Die Digitalisierung älterer Bücher wird mit sogenannter OCR-Software bewerkstelligt. Im Englischen kommt es häufig zu einer Fehlleistung beim Erkennen von "arms". Es heißt dann (Bragg, 2009):
When she spotted me, she flung her anus high in the air and kept them up until she reached me. 'Matisse. Oh boy!' she said. She grabbed my anus and positioned my body in the direction of the east gallery and we started walking.
Nochmals: wenn das Schriftstück oder noch besser die an die Wand projizierte Präsentation einen Fehler enthält, dann ist das inhaltlich unwichtig. Dabei ist es beinahe unglaublich, wie flexibel das Hirn sein könnte. Texte wie:
es ist eagl in wcheler rhnfgeeloie die bstuchbaen in eniem wrot snid. das eniizg whictgie ist, dsas der etrse und der lztete bstuchbae am rtigeichn paltz snid.
kann man dennoch lesen. Man sehe Rowlinson (1976).

Nun kommt aber die Charakterfrage in einem institutionellen Rahmen zum tragen. Es ist erstaunlich, wie es sich viele höhere Vorgesetzte nicht nehmen lassen, mahnend, beleidigt oder herablassend darauf aufmerksam zu machen. Dann kommen auch Aussagen: "Ich bin ein Sprachzelot, ich sehe Fehler sofort", stolz mit Hinblick auf ihre visuell-zerebralen Fähigkeiten.  Es ist eine altbekannte Tatsache, dass die "Air-time", die "Sendezeit" in Sitzungen proportional zur Hierarchiestufe ist. Chefs kann man wie Pawlow'sche Hunde zum vokalen Sabbern bringen, indem man selber viel spricht. Mit Aussagen über Fehlschreibungen kann man sein Air-time-Konto belasten, ohne zu riskieren, inhaltlich eine Plattitüde zu verbreiten. Seit dem Essay von Princeton-Professor Frankfurt, "On Bullshit", ist das Phänomen eingeführt, aber natürlich nicht geheilt.

Dieses Dreinreden ist offensichtlich eine Machtdemonstration, die aber insofern gesellschaftlich akzeptiert ist, als Schreibfehler als Unachtsamkeit, fehlende Sorgfalt und damit als Respektlosigkeit empfunden werden können, besonders in Zeiten von automatischen Korrekturhilfen. Man kann also die beleidigte Leberwurst geben und gleichzeitig die kosmische Hierarchie befestigen. 

Anderseits ist der Zweck von Kommunikation das Verständnis, aber auch das verstehen wollen. Und hier offenbart sich der Charakterfehler. "Form over substance" wie der Wirtschaftsprüfer nicht sagt.

Zudem ist die Situation nicht symmetrisch. Die meisten höheren Vorgesetzten mögen es nicht sonderlich, wenn man ihre Schreibfehler anmahnt (außer sie müssen den Text noch weiter nach oben tragen und sind damit potentielle Untergebene). Die obersten Chefs können wiederum noch eins drauf setzen, indem sie absichtlich Fehler machen nach dem Motto: "Unmoral [und damit Freiheit von Schreibkonventionen] ist das offensichtliche Zeichen der Macht". Sie müssen sich aber nicht wundern, wenn sie nur noch das erfahren, was sie hören möchten.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: es gibt auch Vorgesetzte, die großzügig und wohlwollend kommentarlos und inhaltsfokussiert die Klappe halten können, besonders wenn sie genug Selbstsicherheit besitzen. 

In Zeiten der Multimedien gibt es noch die Variante Versprecher. Vor kurzem konnte man am WDR, und dann tausendfach auf youtube hören, wie die Moderatorin sagt: "... dort können sie auch den Link zu Facebook ficken ... klicken...". Der Zuschauer ist beleidigt, nein eher belustigt. Ich kann mich noch gut an einen Schulkameraden erinnern, der beim Vorlesen in Französisch ab und zu eine priapische Zote mit engelsgleicher Stimme flötete. 



Literaturangeben

Bragg, G. (2009). Matisse on the loose: a novel. New York: Delacorte Press.

Frankfurt, H. (2005). On bullshit. Princeton, NJ: Princeton University Press.


Rawlinson, G. (1976). The Significance of Letter Position in Word Recognition. 

PhD Thesis, 1976, Nottingham University.