Dienstag, 19. April 2016

Böhmische Fahrt auf den Grund der Karten

Sport-Camp in Tachov, Tschechien: mein Sohn muss hingefahren werden. Wir übernachten bei der Oma in der Oberpfalz. 

Da ich mich aus sehr persönlichen Gründen weigere, ein Navigationssystem zu gebrauchen, fängt eine solche Reise mit der Analyse von Karten an.  Mehrere Systeme sind frei verfügbar, von Viamichelin bis Google-Maps. Bis an die Grenze von Tschechien ist es trivial, die Autobahn führt zum Zollübergang in Waidhaus. Von dort kann man der Bezahlautobahn weiterfolgen, die aber einen weiteren Weg bedingt.  Meist sieht man ja nicht viel.

Damit eine Reise auch eine Zeitreise wird, empfiehlt es sich, ältere Dokumente zur Geographie oder zur Geschichte zu konsultieren. Meyers Konversationslexicon von 1900 ist immer eine erste Adresse. Daraus lernt man den Stand der Dinge, gesellschaftlich, wirtschaftlich, statistisch usw. über Tachau, wie Tachov damals noch hieß. Älteres Kartenwerk wie etwa die 1:75 000 Karte des K.u.k Militärgeographischen Institut in der Aufnahme von 1878, eine Schraffenkarte, ist auch ästhetisch ein Genuss. Die Strecke führt kartographisch von "Pfraumberg" zu "Marienbad und Tachau".


Abbildung 1: "Marienbad und Tachau" (Ausschnitt)
Abbildung 2: Karten 1:75 000 von 1878 "Pfraumberg"
Gemäß aktueller Karte fährt man ab der Grenze über Rozvadov, Hostka, Zebraky und Dlouhy Ujezd nach Tachov. Auf der älteren Karte führte der Weg von Zirk und Rosshaupt, an Münchsfeld links vorbei nach Hesselsdorf, Petlarn, Purschau und Schönwald sowie Schönbrunn nach Tachau.

Sogleich erkennt man, dass ein paar Dörfer fehlen, zum Beispiel Purschau, aber auch Zirk, Münchsfeld und Schönwald. Ein vertieftes Vergleichsstudium der Karten zeigt, dass in einer bestimmten Distanz zur Grenze zur BRD die Dörfer und die vielen Mühlen, d.h. Sägewerke, und Hütten fehlen. Zudem sind im weiteren Hinterland Lücken entstanden; die Besiedlung ist ausgedünnt. Nun ist allgemein bekannt, dass auf der Grundlage der Benes-Dekrete die "Sudetendeutschen" ihre Heimat verlassen musste, sodass nach 1948 fast alle vertrieben wurden. Ältere Dokumente zeigen, dass z.B. Purschau rund tausend Einwohner zählte, von denen fünf Tschechen und sechs Juden waren.

Mit ein bisschen Vorinformation sind wir also losgefahren. In Rozvadov passieren wir eine Polizei-Patrouille, die wie aus der Zeit gefallen wirkt. Orange-braunes Flanell mit Gurt und Schirmmütze vor einem Lada stehend, dem analogen Fiat-Modell 124 aus den 70er Jahren. Ich bin mir nicht sicher, ob gerade ein Film gedreht wurde oder ob der Aufzug echt war. Dann gings die lange Gerade runter, beinahe am Ende angelangt, mussten wir nach links abbiegen. Bald streift man Hostka (Hesselsdorf) und fährt im großen Bogen durch sumpfige Landschaft auf einer erbarmenswürdigen Strasse nach Zebraky (Petlarn), einem kleinen Dorf, deren gleichförmigen Häuser rund um eine große Wiese angeordnet sind. Dann gehts mal rauf und dann runter, durch kleine Waldungen, über Brücken mit angestauten Teichen. Am Schluss durchquert man Dlouhy Ujezd (Schönbrunn), das vielleicht einen schönen Brunne besaß, aber heute eher ärmlich und ungepflegt aussieht.

In Tachov angelangt, die Sportanlage, die genau so aussieht, wie man sich eine Eissportzentrum aus dem Ostblock vorstellt, besichtig und das Zimmer bezogen, konnte ich zurückkehren. Aber die gleiche Strecke nochmals befahren, macht nicht Spaß, besonders wenn die alte Strasse, die nach Nürnberg führte und z.B. von Jan Hus benutzt wurde, um nach Konstanz zu gelangen (und nicht wieder zurück), sich anbietet. Auf der Kuppe angelangt, wo einst die Grenzbefestigung der Tschechoslowaken gestanden hat, für die das Dorf Paulsbrunn geschleift wurde, ist es recht einsam. Dann als letztes Gebäude eine neue Tankstelle mit Paletten von Bier. Ein paar Meter noch und man ist in Bayern. Von Bärnau gelangt man nach Flössenburg, einem KZ, in dem Flugmotoren produziert und dafür Tausende zu Tode geschunden und gequält wurden. In der Ebene standen die Baracken und die Werkstätten, am Hand die Unterkünfte der Mannschaft und die Villen der Leiter samt Kasino. Die Einfamilienhäuser am Hang stellvertreten die früheren Baracken. Ganz hinten am Abhang ist das Krematorium. 

Dass dieses Mahnmal einen Zusammenhang mit den verschwundenen Dörfern hat, ist nicht weiter erwähnenswert.

Eine Woche später bin ich wieder auf der gleichen Strecke unterwegs. Absichtlich habe ich ein bisschen Zeit eingeplant, um mich etwas umzusehen. Wie sieht ein geschleiftes Dorf aus? Tatsächlich ist es nicht einfach zu finden. Purschau (Porejov) und andere solche ehemaligen Dörfer sind einfach nur Waldungen. Man frag sich, wieso stand gerade hier ein Dorf? Geschützte Lage, frisches Wasser, ... ; es ist nicht evident sondern eher zufällig. 


Abbildung 3: Karte von 1950 mit Porejov (Purschau) und Bazantov (Wosant)
Aber was sagen die Akten, hier vor allem der Kataster. Zum Schleifen hat wohl eine Kompanie Pioniere mit Sprengmitteln das Werk im Realen erledigt (Purschau wurde vorgängig von der amerikanischen Artillerie beschossen); haben die Bürokraten das auch nachvollzogen? Die Dorfkirche ist weg;  die jüdischen Steine stehen noch weit außerhalb. 

Abiildung 4: Purschau schon zerstört, 50er Jahre (Karte 1:25 000)

Abbildung 5: Wosant teilweise zerstört (Trümmer als schwarze Dreiecke)
Im folgenden schauen wir uns die Katasterkarten an, die ja jeweils mit dem Grundbuch verbunden sind. Von 1810 bis 1870 wurde das Kaiserreich Österreich, von Franz I. veranlasst, vermessen. Damit entstand der sogenannte Franziszeische Kataster. Für die von uns interessierten Dörfer wurden die Blätter um 1834 (Abbildung 6 und 7) aufgenommen. Gelb sind Wirtschaftsgebäude meist aus Holz, rosa bedeuten steinerne Bauten und dunkelrot sind öffentliche Gebäude.

Abbildung 7: Franziszeischer Kataster von Purschau

Abbildung 8: Franziszeischer Kataster von Wosant
In der Abbildung 9 sieht man das ehemalige Dorf Purschau eigentlich schon nicht mehr. Sogar die Strasse ist nicht mehr durchgängig verzeichnet. Unten rechts sieht man noch die kleinräumige Parzellenstruktur der Felder.

Abbildung 9: Tschechoslowakischer Kataster von 1967, Purschau.
Anders Wosant (Bazantov); alle Parzellen sind nachgetragen. Charakteristisch sind die drei Zisternen oder Teiche, um die sich die Häuser des Dorfes herumgruppieren.

Abbildung 10: Wosant im Kataster 1962.

Neuste Katasteraufnahmen mit unterlegtem Luftbild zeigen die Abbildungen 11 und 12. Der Wald hat sich die Dörfer zurückgenommen. Hier schließt sich ein rund 700 Jahre währender Kreis. Natur und Kultur wechseln sich ab.
Abbildung 11: Purschau im aktuellen Kataster. Die Parzellenstruktur ist nicht mehr erkennbar.
Im Fall von Wosant waren die Vermesser doch so eifrig, die alten Strukturen wenigstens ansatzweise wiederzugeben. Da Wosant durch Aussiedlung aufgegeben wurde und nicht wie Purschau auch durch kriegerische Handlungen zerstört wurde, war die geodätische Mission einfacher.
Abbildung 12: Wosant im neuesten Kataster: immer noch ein bisschen vorhanden.
Im folgenden sieht man, was man von der Strasse aus sieht: Wald.

Abbildung 13: Hier fährt man durch das ehemalige Dorf Purschau, das durch Waldung ersetzt ist..

Abbildung 14: Das ist das ehemalige Dorf Wosant, man erkennt einen der Teiche.
Dieser Artikel basiert auf ein paar intensiven Stunden der Nachforschung. Deshalb habe ich mir erlaubt, diese Arbeit hier wiederzugeben. Vielleicht regt es andere ein wenig an, weniger auf ihr Navigationssystem zu schauen, sondern den Karten auf den Grund zu gehen.


Quellen


http://archivnimapy.cuzk.cz/

http://maps.nypl.org/

https://mapy.cz