Montag, 4. April 2016

Les nobles erreurs des vieillards

Der grosse Kenner der menschlichen Tiefen, Honoré de Balzac, schrieb über den Arzt Benassis in seinem Roman "Le médecin de campagne" um 1833:
Devenu riche, n’ayant qu’un fils, il voulut lui transmettre la froide expérience qu’il avait échangée contre ses illusions évanouies : dernières et nobles erreurs des vieillards qui tentent vainement de léguer leurs vertus et leurs prudents calculs à des enfants enchantés de la vie et pressés de jouir. 
Für meine atypischen Leser, die des Französischen nicht ausreichend mächtig sind, findet sich unten die Übersetzung*.

Diese Passage ist ein Konzentrat an Motiven. Da sie aus einer Zeit stammt, in der sich die psychologische Pädagogik, die Lernpsychologie und der Wissenszweige mehr, noch nicht im Schwang waren und da der Autor dieses Beitrags ohnehin nur ein Dilettant ist (Egon Friedell lässt grüssen), bleiben wir einfach am Text, der ja sehr einleuchtend daher kommt. Jeder Elternteil wird schon selber die Schwierigkeit der Wissensvermittlung erfahren haben. Es wird ja im Text mit "Tugend" ein verschlungener Wissenskomplex angesprochen und nicht ein einfaches Faktenwissen.

Zuerst wird der Landarzt als Exemplar genommen, dann wird die Aussage als allgemein dargestellt. Der Landarzt gehört zur Gruppe der Alten, die sich allesamt irren. Da es sich um die letzten Irrtümer handelt, wird der Irrtum als condition humaine** impliziert; das Leben ist voller Irrtümer. Damit werden die letzten Irrtümer relativiert.

Die Tatsache, dass er reich geworden ist, ist nicht so wichtig. Aber sie kann als Begründung verstanden werden, genug über das Funktionieren der realen Welt verstanden zu haben. 

Der einzige Sohn macht den Wunsch zur Belehrung umso dringender; er ist die einzige Chance und gleichzeitig auch der einzige Erbe.  Sein Wunsch ist es, Erfahrung zu übertragen. Diese wird als "kühl" qualifiziert, denn sie wurde mit dem Dahinschwinden der Illusionen erkauft. Es wird zwar von einem aktiven Tausch ausgegangen, man will Erfahrung erlangen, die Illusion wird aber nicht aktiv aufgegeben, nein, sie verduftet, verschwindet, ihre Hingabe höchstens billigend in Kauf genommen. 

Die Erfahrung wird noch enger gefasst mit den Begriffen Tugend und "calcul prudent". Die Übersetzung liefert "kluge Rechnungen", obwohl eine Rechnung meist richtig oder falsch ist. Diese Kombination versteht sich eher als konservative, vorsichtige Abschätzung, in der auch ein qualitatives Element enthalten ist. Das Leben ist nicht so genau.

Was steht aber dem Wissenstransfer entgegen? Es sind die unterschiedlichen Gemütslagen: da die Alten, desillusioniert, materiell erfüllt und von ihrer Weisheit überzeugt, dort die Jungen, voller Lebensfreude, begeistert und genießerisch.

Und wieso ist das relevant? Ich muss nicht noch älter werden, um zu sehen, dass meine Kinder nicht das gleiche Mass an Leidenschaft für die Mathematik zeigen, wie es mich befällt. Und was steht dem entgegen? Es ist die Hektik des Lehrbetriebs, die nicht genug Zeit zulässt, Probleme von verschiedenen Warten zu diskutieren und damit die Phantasie anzuregen. Man nennt dies Metakognition. "Sag mir, wie man das rechnet, verwirre mich aber nicht mit zusätzlichen Erklärungen, das nächste Fach wartet schon". Etwa Französisch mit dem kartesischen Produkt von {Person, Sache} X {Nominativ, Akkusativ} ={qui est-ce qui, qui ... que, qu' ... qui, qu' ... que}, aber was hat Mathematik mit Französisch zu tun?

Fußnoten

*) Als er reich geworden war und nur einen Sohn besaß, wollte er auf ihn die kühle Erfahrung übertragen, die er für seine verflüchtigten Illusionen eingetauscht hatte: letzte und edle Irrtümer der Greise, die vergebens ihre Tugenden und ihre klugen Rechnungen Kindern zu vermachen suchen, die begeistert vom Leben sind und es genießen wollen.

**) Ich hätte vor kurzen nach Shanghai reisen sollen und hatte dafür den Text von Malraux im Keller ausgegraben. Literatur kann inspirierender sein als Reiseführer.


Literaturverzeichnis


Balzac. (1999). Le Médecin de campagne. Suivi de La Confession inédite. Paris: Librairie générale française.

Mauger, G. (1967). Cours de langue et civilisation francaises. Paris: Librairie Hachette

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