Samstag, 6. Februar 2021

On my armrest: Lesen in der Pandemie

Nicht nur in der Pandemie sondern ganz allgemein ist der Schreibende ein grosser Leser. Das führt ab un an zu Konflikten mit meinen mitbewohnenden Familienmitgliedern. Mein Arbeitgeber hat mir vor ein paar Tagen meine Bücher aus dem Bureau nach Hause liefern lassen. Siebzehn Kisten.

Gemäss einer Umfrage der lokalen Tageszeitung würden 44.5% im Bett lesen, auf dem Sofa 29.2, im Sessel 15%, in öffentlichen Verkehrsmittel 5.7, am Schreibtisch 5.5,  in Badewanne 1 und im Café 1 v.H. Ich bevorzuge auch das Sofa, wobei Sessel für mich kein qualitativer Unterschied darstellt. Von einem amerikanischen Komiker ist das Bonmot bekannt: "Männer, die Frauen lesen können wie offene Bücher, lesen am liebsten im Bett". Dies wird in dieser Befragung allerdings nicht erhärtet. Bei diesem Bonmot fragt sich in der heutigen Zeit der Korrektheit, ob man nicht Frau und Mann permutieren oder kombinieren muss und vielleicht die Grundmenge erweitern soll, um alle Konstellationen abzudecken, vielleicht mit den Worten permutatis permutandis?

Dem Sofaleser bieten sich die Armlehnen als mehr oder weniger temporäre Ablageflächen an. Da ich in der glücklichen Lage bin, vier Sofas in meiner bescheidenen Behausung zur Verfügung zu haben, ergibt dies acht Armlehnen. Diese nehme ich allerdings nicht alle in Beschlag.  

Die Auswahl spiegelt meine momentanes Interesse um Steuern, Macht und Geschichte.

Erste Armlehne

Auf dieser Stütze finden sich drei Bücher, die sich mit der Überlappung von Geschichte und Soziologie befassen:
  1. Ladurie, Emmanuel. Montaillou, village occitan de 1294 à 1324. Paris: Gallimard, 2008. 
  2. Simmel, Georg. Philosophie des Geldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989. 
  3. Dürrenmatt, Peter. Schweizer Geschichte. Zürich: Schweizer Verlagshaus AG, 1963.
Das Buch über Montaillou, einem Bergdorf im Südwesten Frankreichs, am Fusse der Pyrenäen, ist das detaillierteste und deshalb hervorragendste Zeugnis einer Gemeinschaft und Gesellschaft im Übergang vom 13. zum  14. Jahrhundert. Die Originalaufzeichnungen aus Befragungen des Bischofs und Inquisitors Jacques Fournier, dem späteren Papst Benedikt XII, über einen Zeitraum von dreissig Jahren. Das Buch von Ladurie komponiert aus dem Original sehr viele soziologisch-ethnographische Themen, wie etwa die Familie und das Haus, die Liebe, Religion usw. Als Hauptakteur stellt sich Pierre Clergue heraus, der sowohl katholischer Priester als auch häretischer Albigenser ist, der Sekte zugehörig, der das Augenmerk des Inquisitors gilt.  Sein Bruder ist der Vogt (baile), und zusammen gehören sie zur dominierenden Familie (domus) in Montaillou. Dieser Pierre ist aber auch ein Mann starker Libido, dem sich die Frauen gerne hingeben. Es gilt das Verständnis, dass guter Sex keine Sünde ist. Es steht über ihn (Ladurie, 2008, 225):
Il épargne à ses conquêtes l'ennui des avant-propos; il marche droit au but. Mais sans forcer rien ni personne. Le pouvoir en effet n'exclut nullement la douceur, parmi les paysan "brutaux", le prêtre, lui, sait être compréhensif avec les femmes.

Mein Interesse gilt vor allem der Gesellschaftsstruktur und den Abgaben (dîme, der Zehnt) für Kirche und Herrschaft etc.

Georg Simmel ist ein Soziologe der ersten Stunden, d.h. von der vorletzten Jahrhundertwende. Hier interessiert die Soziologie des Geldes, das mit der Evolution der Gesellschaft und des Geldwesens, interessante Aspekte hergibt. Eine kleine Kostprobe:

Das Geld hat jene sehr positive Eigenschaft, die man mit dem negativen Begriffe der Charakterlosigkeit bezeichnet.

Dem Menschen, den wir charakterlos nennen, ist es wesentlich, nicht durch die innere und inhaltliche Dignität von Personen, Dingen, Gedanken sich bestimmen zu lassen, sondern durch die quantitative Macht, mit der das Einzelne ihn beeindruckt, vergewaltigt zu werden.

Die Simmel-Ausgabe ist von der Deutschen Bank, meinem weit zurückliegenden Arbeitgeber, unterstützt worden. Die Bank galt damals als sehr elitär und gerade deshalb als sehr kulturbeflissen. Dieses Klima hab ich genossen. (An der Bereichsvorstandssitzung sage ich zur neuen Marketingkampagne "Wie entsteht das Geld?": Das ist wohl ein Oxymoron. Worauf mein Kollege antwortet: ich kenne viele Morons aber diesen nicht.)

Im Buch von Peter Dürrenmatt möchte ich vor allem verstehen, wie es der Eidgenossenschaft gelang den Landesherrn abzuschütteln, der ja die höchsten Steuern verlangte und nur noch unter dem Schirm des Kaisers zu bleiben. Die Eidgenossen profitierten häufig von der Tatsache, dass die Obervasallen Probleme mit der Kontinuität der Herrschaftsausübung erlitten. Einem tüchtigen Fürsten folgte ein bevormundetes Kind oder ein schwacher Herr.

Abbildung 1: Erste Lehne

Zweite Armlehne

Hier liegen, aufgeschlagen oder mit Lesezeichen versehen die zwei Bücher:
  1. Gonick, Larry. The cartoon history of the universe. New York: Doubleday, 1990. 
  2. Schultz, Uwe. Mit dem Zehnten fing es an:  Eine Kulturgeschichte der Steuer. Frankfurt am Main, Olten, Wien: Büchergilde Gutenberg, 1988.
Das zweite Buch enthält 21 Beiträge von gleicher Länge. Denn es sind Texte, die als Rundfunksendungen ausgestrahlt wurden.  Sie geben einen guten, wenn auch nicht ganz synthetischen Überblick zu den Steuern. Die Zehnte im Titel als Anfang bezieht sich auf die mosaischen Gesetze, die ein Opfer für den Tempel fordern. Was man sich vergegenwärtigen muss, ist die Tatsache, dass diese 10% auf dem Nettoertrag bemessen werden. Zu jener frühen Zeit ergab ein Teil Saatgut rund fünf Teile Ernte, von der Arbeit ganz zu schweigen.

Das Cartoon-Buch von Gonick kann man gar nicht genug preisen. Auch hier zur Geschichte, genauso genial wie sein Cartoon zur Statistik, ist es ein Born der Erkenntnis. Der Übergang von der Neolithischen Revolution im fruchtbaren Halbmond mit den Geschichten von Uruk, Babylon und Ägypten mit Verweis auf das alte Testament ist eine wahre Erbauung und ermuntert einen, die Geschichte von Gilgamesch einmal zu lesen. In der Schule wird dieser Abschnitt mit sehr grossen Schritten durchmessen.

Abbildung 2: Zweite Lehne

Die wechselvollen Kriege zwischen den sumerischen Königreichen von Umma, Lagash führen zur Absetzung des einen Königs, der von Urukagina, "the first tax reformer known to history", ersetzt wurde. Gonick (1990, 115) schreibt:
Urukagina cut taxes and fired the collectors, restored temple property, and passed many laws protecting widows, orphans and the poor from the greedy and more powerful neighbors. The tax cuts, however, created a new problem: Now the government's broke!
Es ist erstaunlich zu sehen, wie die Geschichte (und sein Comic) gepflastert ist mit Steuern.

Dritte Lehne

Das ist nun das rote Sofa, eigentlich für eher kurze Aufenthalte bestimmt, wie zum Beispiel der Person am Herd moralischen Beistand zu leisten oder auf der Durchschreitung des Hauses eine kleine Denkpause einzulegen. Aufgrund der Lage nahe dem Eingang der Wohnstatt gehen postalische Neueingänge auch gerne über das Sofa.


Abbildung 3: Dritte Lehne
  1. Morari, Sergio. Il battaglione Intra : una storia di alpini. Verbania: Alberti libraio, 2006.
  2. Gerloff, Wilhelm. Die öffentliche Finanzwirtschaft. Frankfurt am Main: V. Klostermann, 1942.
Das Bataillon Intra hat eine spezielle Bedeutung für meine Familie, denn mein Grossvater hat dreieinhalb Jahre im Grossen Krieg in dieser Gebirgseinheit vom Lago Maggiore gekämpft. Sie gehörte zur Division "Taurinense" (Turin), auch wenn Soldaten aus lombardischen Seeseite eingegliedert waren. Kampf zuerst am Isonzo, dann auf dem Adamello, wo die Front sommers und winters auf über 3300 m.ü.M. verlief. Zwei Onkel waren später auch im Intra eingeteilt, der jüngere dann im zweiten Konflikt zuerst in Montenegro und dann in Jugoslawien. Dort hat der Einsatz einen sehr schlimmen Verlauf genommen, besonders im Kampf gegen Partisanen. Repressalien, Erschiessungen, angezündete Häuser. Im Buch heisst es dann mal verklausuliert, dass die Häuser nicht immer restlos geräumt waren. Geschichtsklitterung ist das Kennzeichen der eigenen Geschichtsschreibung. Es heisst dann mal:
Il Battaglione Intra fu spesso considerato indisciplinato ma, a rileggere questi eventi, quell' indisciplina si tradusse in un senso di rispetto per la dignità dell essere umano. Non sempre la gloria si ottiene attraverso l'uso delle armi.

Die Tragödie war aber der chaotische Kriegsaustritt am 8. September 1943, dem Befehle im Stil des Orakels von Delphi folgten. Der Generalstabschef Ambrosio war mit dem Umzug daheim beschäftigt. Der Onkel vom Intra floh dann aus dem Stammlager Fichtenhain bei Krefeld, ein andere verstarb als IMI und Zwangsarbeiter in Düsseldorf-Gerresheim. Todesursache: "metapneumonisches Empyem und Leberabszess".

Das Buch von Gerloff ist ein Klassiker für Spezialisten für Finanzwissenschaft und Steuern im Speziellen. Die mir vorliegende 2. Ausgabe ist aus dem Jahr 1942 und enthält, wohl vom System gefordert, ein paar kuriose Aussagen. Steuern erscheinen im Wandel der Zeit endlich als politische Institution des totalen Staates (Gerloff, 1942, 227):

Dem ökonomischen Liberalismus ist die Steuer ein Tausch oder ein Preis für geleistete Dienste, und die Steuerpflicht findet ihren Grund und ihr Maß in den Vorteilen, die der einzelne im Staate und durch den Staat genießt. Der historisch-organischen Staatsauffassung ist die Steuer ein Opfer, das der Staat nach Massgabe seiner Zwecke und Bedürfnisse und ohne Rücksicht auf gewährte Vorteile beansprucht. Dem Nationalsozialismus aber ist die Steuer weder Preis noch Opfer, sondern: die Steuer ist Dienstleistung an der Gemeinschaft. Nicht das Recht des Individuums und die ihm zuteil werdenden Gerechtigkeit ist das Entscheidende, sondern die Erhaltung und Förderung von Volk und Nation und  darüber hinaus die Verwirklichung einer neuen Gesellschafts- und Lebensordnung.

Fritz Neumark hat in einem Nachruf auf Gerloff geschrieben, dass er als charaktervolle Persönlichkeit schlecht ins Dritte Reich passte.  "Dienstleistung an der Gemeinschaft" ist ein völliges Hirngespinst und Geschwurbel eines totalitären Staates. Aber auch Frau Thatcher war der Ansicht, es gebe die Gesellschaft nicht. Dieses Buch ist um seiner soziologischen und historischen Teile willen sehr anregend.

Die zwei kleinen Hefter der Beck'schen Reihe handeln von Mesopotamien und dem Untergang des römischen Reichs.

A Farewell to Arms

In der folgenden Aufnahme sehen wir eine Kiste, für die Entsorgung bereit. Sie enthält Titel, und dies sind teilweise sehr teure Editionen, die sich um Risikomanagement, Kredit usw. drehen. Irgendwann kommt der Tag, andem man sagen muss, diese werde ich nicht mehr brauchen. Das Leben ist zu kurz und die Industrie verkürzt das produktive Leben zusätzlich, um auf gewisse Themen zurückzukommen. 

Entsorgung
Abbildung 4: Disponenda

(Damit ist auch Hemingway zu Ehren gekommen, der ebenfalls am Isonzo war.)

Fazit

Auf ein paar Armlehnen hat eine Menge Wissen Platz! Aber leider: ars longa vita brevis.

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