Dienstag, 6. April 2021

Corona und Covid-Modellierung -- Plädoyer für die Beibehaltung von Massnahmen

Aber du steure vorbei, und verkleibe die Ohren der Freunde

Liebe Lesende, ich habe den ursprünglichen Post stark redigiert und die Totzeit getötet.

Wie der Philosophieprofessor Harry Frankfurter von Princeton schon darlegte, Bullshit ist überall. Das kann man natürlich stark bedauern, vor allem wenn man nicht im Dünger-Business ist. Oder eben selber ausnutzen, um irgendeinen Senf im Bewusstsein der Menschheit zu deponieren. Das ist heutzutage absolut legitim, denn die Leser gehen nicht davon aus, dass der Schreibende irgendetwas versteht, es möglicherweise ohnehin abgekupfert hat. Er oder sie geht davon aus, dass der Schreibende treu zu seiner Authentizität ist, also glaubt, was er sagt, auch wenn es nur Blödsinn ist. In diesem Sinne folgt eine Senfablagerung, auf die die Menschheit sicher nicht gewartet hat, aber der Selbstverherrlichung des Schreibenden nützlich ist. Da man heute ja psychologisch stark unter Druck ist, kann man auch eine therapeutische Zielsetzung dieses Blogs unterstellen, also prodesse für den Schreiber und delectare für wen auch immer.

Zielsystem?

Das Beherrschen der Pandemie ist offensichtlich ein Optimierungsproblem, wobei erschwerend die Zielfunktion eine politisch-wirtschaftliche und somit gesellschaftliche ist. Zudem wird ja nicht in diesen Kategorien diskutiert, also beispielsweise: Optimiert wird die Anzahl Tote unter der Nebenbedingung von nicht überlasteten Intensivstationen. Oder: Die Zielfunktion ist die minimale Minderung des Bruttosozialprodukts unter den Nebenbedingungen von akzeptablen Todesfälle und  beschränkter Gesundheitskosten etc. Da man sich nicht auf ein Ziel festlegen kann, resultiert eine Art latenter gewichteter Index von Zielgrößen. Die Gewichte entsprechen dem politischen und gesellschaftlichen Druck auf den Regler, d.h. den Staat. erschwerend kommt hinzu, dass einige wichtige Grössen nicht beobachtbar sind und, schlimmer, dass man gewisse Grössen nicht richtig beobachtet, z.B. die Übersterblichkeit nach Altersgruppen, oder Daten viel zu langsam und unsystematisch gesammelt werden. Dies geht mit der absurden Meinung einher, man gehöre zu den Digitalisierungs-Weltmeistern.

Daten

Abb 2: Normierter Zeitablauf von Todesfällen, Infektionen und Massnahmen in der Schweiz (Quelle: https://ourworldindata.org/).

Abbildung 2 zeigt die Todesfälle, Infektionen und Maßnahmen anhand des Stringency Indizes, der von Wissenschaftlern von Oxford entwickelt wurde. Er umfasst neun möglichst wenig korrelierte Elemente zusammen und ist auf maximal 100 normiert. Er versucht die polizeilichen Massnahmen, also Hygiene, Laden- und Schulschließung etc., der einzelnen Länder auf einen Wert abzubilden. Die Abbildung ist wiederum skaliert, denn hier interessiert vor allem die Verzögerung von Infektion und Tod sowie der Zusammenhang von Massnahmen mit den Todesfällen. Wir sehen zwei Spitzen um Ende März und Mitte Oktober herum. In der ersten Spitze war die Schweiz von ausländischen Verhältnissen gewarnt und hat deshalb noch vor den Fällen stark reagiert in einer Schärfe von rund 75 von 100. Beim zweiten Peak kam die Aktion zu spät und zu gering. Hier kommt blau nach rot. Die Todesfälle hinken rund einen Monat hinterher.

Der Stringency Index kann als Bindeglied zwischen Todesfällen und wirtschaftlichen Kosten angesehen werden. Die Einbußen der Wirtschaft sind abhängig von der Stärke der Massnahmen, die wiederum einen Einfluss auf die Todesfälle haben. Man erfährt aber, dass die Wirkung von Massnahmen verzögert sind und eine Quantifizierung oder Modellierung eher schwierig ist. Zudem ist der Index keine glatte Funktion, was wiederum einer einfache Optimierung hinderlich ist.

Abb. 3: Todesfälle pro Million in den drei Ländern Schweiz, Italien und Deutschland(Quelle: https://ourworldindata.org/).
Die Abb. 3 zeigt zum einen, dass beim zweiten Peak die Sterberate ungefähr dasselbe Maximum erreicht. Im ersten Peak ist es ganz anders. Hier ist es möglich, dass die zahlreicheren Alten in Italien das Bild beherrschen. Sind diese vom Sensenmann geerntet worden (im Englischen spricht man von Harvesting), dann bleibt eine ähnliche Disposition übrig. Die Flächen unter dem Peak sind ebenfalls ähnlich, so dass hier keiner der drei Staaten besser davongekommen ist. Einzig die zeitliche Verschiebung und die Schiefe der Kurve sind für Deutschland auffallend anders. Zum dritten sieht man für Italien einen deutlichen Neuaufschwung, der wohl der aggressiveren Mutation zuzuschreiben ist, falls sie im Süden schneller und früher Fuss gefasst hat oder die Altersstruktur erneut stärker belastet. 

Abb. 4: Der Verlauf des Stringency Indizes für die drei Länder(Quelle: https://ourworldindata.org/).
Abbildung 4 zeigt die indexierten Massnahmen der drei analysierten Länder. Die Schweiz hat laut dieser Messmethode beinahe durchgehend die geringsten Massnahmen  getroffen und wie Italien den zweiten Peak mit weniger Einschränkungen als bei ersten Peak. Hier wird wohl der Überdruss oder die Schutzmüdigkeit der Bevölkerung oder der Wirtschaft von den Regierenden berücksichtigt. Eigentlich hätte es wie in Deutschland sein sollen, nämlich striktere Massnahmen.
Abb. 5: Neuinfektionen nach Land im Zeitverlauf (Quelle: https://ourworldindata.org/)
Abbildung 5 zeigt die (geglätteten) Neuinfektionen pro Million Einwohner. In dieser Darstellung sieht die Schweiz besonders schlecht aus. In Zusammenspiel mit Abb. 4 könnte man unterstellen, dass je früher im Herbst Massnahmen getroffen worden sind, desto kleiner ist die Ansteckungsrate. Frühes Eingreifen scheint hochwirksam zu sein. Dennoch, wie Abb. 3 gezeigt hat, sind die Todesfälle hingegen wenig verschieden. 

Aus allen diesen Diagrammen ist es sehr schwierig empirisch aus dem Stringency Index auf die Todesfälle zu schließen. Für den Regeltechniker wäre ein evidenter Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Todesfälle eminent wichtig. Man könnte den Fokus einfach auf die Ansteckungen legen, denn dann scheint die Abhängigkeit klarer und damit einem breiten Publikum besser vermittelbar. Welches ist aber der bessere Schätzwert für die Belegung der Intensivstationen? Mit jedem  Toten wird die Statistik besser weil die Übersterblichkeit stark von der Altersstruktur abhängt.

Das Modell

Wie sieht denn das Modell der Regelstrecke aus? Im Blog Coronavirus: Dynamik der Ausbreitung anhand des Standardmodells ging ich noch von einem SIS-Modell aus, d.h. die Infizierbaren (S für susceptibles) und die Infizierten (I für infected) sind die zwei Zustände. Damit wurde impliziert, dass es keine immunisierende Wirkung durch Infektion gibt, was sich als nicht zutreffend erwiesen hat. Zudem muss man die Impfungen neu ins Modell aufnehmen. Ein solches Modell könnte wie in Abb. 6 dargestellt aussehen: Neben den Ansteckbaren S, den Angesteckten I treten die Erholten (R für recovered) und die Geimpften (V für vaccinated). Als zulässige Vereinfachung nehmen wir an, dass die natürlichen Todesfälle durch die Geburten ausgeglichen werden und die Infizierten sich nicht impfen lassen können (gestrichelte Pfeil im Diagramm). Für eine kurze Periode bleibt die Bevölkerung also stabil.
Abb. 6: Das Zustandsdiagramm für das Modell
Das entsprechende Gleichungssystem ergibt sich einfach aus der Tatsache, dass sich der Inhalt eines Zustands nach Maßgabe von Zu- und Abflüssen ergibt. Dabei wird eine infinitesimale Änderung betrachtet, die wiederum mit der ersten zeitlichen Ableitung übereinstimmt. Die Variablen sind als Anteile anzusehen, so dass deren Summe immer gleich 1 ist. Beispielsweise muss man für S vier Beiträge (dicke Pfeile) berücksichtigen, für I drei, für R drei und für V ebenfalls drei.
Abb 7: Das Gleichungssystem. Der Operator D ist die Ableitung nach der Zeit (Gruss an Leo Euler). Die Totale Änderung der Zustände ist null.

Abb. 8: Die hier verwendete Definition des Reproduktionswertes R0.

Dieses Differentialgleichunssystem lässt sich recht einfach und stabil numerisch lösen, hier mit einer Funktion ode() aus dem R-Paket deSolve. Da es sich um ein Anfangswertproblem handelt, sind Werte für S(0), I(0) etc. vorzugeben. Die vielen Parameter und Anfangswerte schätzen wir aus der aktuellen Situation anfangs April mit insgesamt 10,359 Toten, 317,600 Erholten und 605,342 Infizierten. Uns interessiert vor allem die Sensitivität des Modell in Hinblick auf die zwei Parameter R und die Impfrate alpha und nu. R kodiert vor allem die Massnahmen, siehe index oben, als auch die Aggressivität des Virus. Aber auch häufiges Testen teilt Infektiöse ab und verringert damit die Übertragung. Abb. 9 zeigt die Lösung des Systems mit einem R-Wert von 1.8 und einer Impfrate von 1.5% (ziemlich optimistisch). Die exponentiell anwachsenden Infizierten werden von der Impfung antagonisiert.
Abb. 9: Die Lösungen des Differentialgleichungssystem. Die fünf Zustände addieren sich jederzeit zu 1. 
Abbildung 10 zeigt verschiedene Szenarien zum R-Wert und zur Impfgeschwindigkeit, die man um die Hälfte auf 1.5% erhöht hat. Beim R von 1.8 ist das anfängliche exponentielle anwachsen durch die Erhöhung der Steigung noch zu erkennen. Die Impfung hat es schwer, die Todesfälle niedrig zu halten. Der R-Wert ist in diesem Modell der viel sensiblere. Auch wenn das Modell eben nur ein Modell ist, so stimmt die Erkenntnis auch plausibel: Der R-Wert ist nicht allzu schnell durch Lockerungen von Maßnahmen aufzugeben.
Abb. 10: Drei verschiedene R-Werte mit zwei unterschiedlichen Durchimpfungsgeschwindigkeiten. Die Impfgeschwindigkeit ist von relativ untergeordneter Bedeutung im Vergleich zum R-Wert und damit zu den Massnahmen.
Wenn man nun die Dauer der Beibehaltung von Maßnahmen mit einem angenommenen R-Wert von 1.1 vergleicht (siehe Abb. 11), so spricht vieles für eine Mindestdauer von  zwei, drei Monaten!
Abb. 11: Szenarien für die Aufhebungsgeschwindigkeit von Massnahmen. Ein tiefer R-Wert ist für dieses Modell für mehr als einen Monat angesagt, um akzeptable Todesfallzahlen zu haben.

Update der Daten (2021-04-20)
Abb. 12: Links Tote, rechts Infektionen pro Mio.


Die sogenannte dritte Welle ist bezüglich Toter in Italien ersichtlich, in der Schweiz unklar und in Deutschland noch nicht sichtbar. Dass die Relation von Toten und Infizierten nicht eindeutig ist, verweist stark auf latente Faktoren (Virusvariante, Altersstruktur, Genetik, Luftverschmutzung,  etc.) oder doch auch unterschiedliche Definitionen. In Italien wurde auch schon behauptet, dass die beinahe zu Tode gesparten Spitäler gerne einen Corona-Zusammenhang berichten, um sich ein wenig stärker zu refinanzieren.

Schlussfolgerungen

1) Die untersuchten Länder haben in der zweiten Spitze alle zu spät reagiert. Im ersten Peak war die geographische Ausbreitung noch länderspezifisch unterschiedlich. Die später betroffenen (Schweiz) konnten aufgrund der Erfahrung im Ausland (Italien) schneller reagieren. Das war beim zweiten Peak nicht mehr so. Diese Tatsache wurde gar nicht erkannt.

2) Eine hohe Impfquote wird ausschlaggebend sein, um die Todesfälle zu stoppen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Wirksamkeit der Impfung hoch bleibt. Varianten mit höherer Übertragbarkeit erhöhen den R-Wert, der dann zu mehr Toten bis zum Stillstand führt. 

3) Die Wirkung der Impfungen muss durch eine Niederhalten des R-Wertes und damit mit der Aufrechterhaltung strenger  Maßnahme verstärkt werden. Denen, die aufgrund der anfänglichen Impferfolge zu schnellen oder augenblicklichen Lockerungen rufen, muss resolut entgegengetreten werden. Der Bundesrat könnte vielleicht gratis Wachs für die Ohren verteilen und sich selber am Mast festbinden. Der Anfang der Weltliteratur kündet *:
Aber du steure vorbei, und verkleibe die Ohren der Freunde
Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, dass niemand
Von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören; 
Siehe dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen:
Dass du den holden Gesang der zwei Sirenen vernehmest.


*) http://www.zeno.org/Literatur/M/Homer/Epen/Odyssee/12.+Gesang







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