Samstag, 21. August 2021

Wie man IT-Projekte in den Sand setzt: Psychologische Fassung


The trouble with the world is that the stupid are cocksure and the intelligent full of doubt. 

Bertrand A. W. Russell

Über das Thema der missglückten IT-Projekte ist schon sehr sehr viel geschrieben worden. Dennoch scheinen vernünftige Ratschläge ungehört zu verklingen.

Die Performance von IT-Projekten ist unterirdisch und zwar schon lange ohne Aussicht auf Besserung. Wie kann das denn sein? Scheitern wird ja auch als Lernmöglichkeit oder Lerngelegenheit angesehen. Macht man denn immer dieselben Fehler? Im Zusammenspiel des Fortschritts von IT-Entwicklungshilfen, Rahmenwerken, Produktivitätstools, verbesserten Methoden, schnellerem Entwickeln etc. und den Entwicklern, das sind Menschen, muss sich das Problem lokalisieren.

Das langsamste Entwicklungstool in diesem Zusammenhang ist wohl das Kleinhirn oder die ursprünglichsten und ältesten Hirnregionen des Menschen. Gefühle und Wahrnehmung können vielleicht nicht genug von kognitiven und intellektuellen Leistungen eingehegt werden. In dieser Hinsicht bahnbrechend waren die Arbeiten von Herbert Simon und die sogenannte "bounded rationality" (Simon, 1947), die "Gut-genug-Lösung" an der Stelle des Optimums forderten. Die Hypothese hier ist, Menschen in IT (oder sonstigen) Projekten sind häufig emotional überfordert im Wechselspiel von Vernunft und Gefühl.

Häufige Topoi sind die sogenannten Kognitiven Verzerrungen: 

  • Optimismus ("optimism bias"), 
  • Planungshörigkeit ("planning fallacy"), 
  • verlochte Kosten-Verzerrung ("sunk cost bias") und 
  • Gruppendenken ("groupthink"). 

Kognitive Verzerrungen sind typische Denkmuster und Denkfallen, die in den letzten 70 Jahren systematisch erforscht wurden, auch mit ausgeklügelten Experimenten. Von grossem Interesse sind die speziellen Verhältnisse von Organisationen, d.h. Verwaltungen und Unternehmungen, die Individuen und Gruppen in einem hierarchischen Gerüst hineinsetzen und somit immer auch das sogenannte Agency-Problem umfassen, d.h. die Beziehung vom Untergebenen und seinem Chef im Spannungsfeld ihrer unterschiedlichen Interessen. Die intellektuelle Speerspitze um die Verzerrungen sind die Forscher Amos Tversky und Daniel Kahneman, letzterer mit dem Nobelpreis ausgezeichnet und auch erfolgreich mit dem Bestseller "Thinking, fast and slow". 

Projekte

Der bekannte CHAOS-Report der Standish Group von 1995, ein Vierteljahrhundert alt, beschreibt schon damals als Erfolgsfaktoren, was wir heute als "agil" kennen:

Research at The Standish Group also indicates that smaller time frames, with delivery of software components early and often, will increase the success rate. Shorter time frames result in an iterative process of design, prototype, develop, test, and deploy small elements. This process is known as "growing" software, as opposed to the old concept of "developing"software. Growing software engages the user earlier, each component has an owner or a small set of owners, and expectations are realistically set. In addition, each software component has a clear and precise statement and set of objectives. Software components and small projects tend to be less complex. Making the projects simpler is a worthwhile endeavor because complexity causes only confusion and increased cost.

Die neuesten Erkenntnisse als fast notwendige Voraussetzungen für erfolgreiche IT-Projekte lauten:

1)  Projekte müssen klein sein,

2)  der Product-Owner muss sehr kundig sein ("highly skilled"),

3) der Entwicklungsprozess muss "agile" sein,

4) das agile Team muss "highly skilled" sein bezüglich agiler Prozesse und Technologie,

5) die Organisation, d.h. die Unternehmung, muss "highly skilled" sein bezüglich emotionaler Reife.

Der letzte Punkt unterstreicht die emotionale Dimension, die in den alten Prozess- und Verfahrensmethoden überhaupt keinen Platz einnehmen. Die Emotionalität ist ein wesentlicher Faktor in der Entscheidungsfindung, die wiederum die traditionelle hierarchische Hackordnung durcheinanderwirbelt. "Ich entscheide, weil ich der Chef bin", "ich bin der Chef, weil ich der beste bin, weil ich mich im Auswahlprozess durchgesetzt habe" etc. ist typisch unreif. In Gremien sitzen neben dem Chef weitere Leute, die er offensichtlich als Mitverantwortliche braucht aber seine Meinung mit Suggestion oder anderen Mitteln durchsetzt. Wie schon Bertram Russell treffend sagte, grosses Selbstvertrauen fusst nicht immer auf Intelligenz. Allerdings wirkt sich ein taumelndes Projekt auf die Stimmung aus: der CEO ist nervös, beschwört seine Truppen zum Durchhalten, bedroht potentielle Abtrünnige etc. und erhält deshalb nur noch relativ positive unkritische Rückmeldungen, an die er sich klammert. Alles wird als extrem komplex hochstilisiert, wobei vergessen geht, dass Komplexität ein relativer Begriff ist. Die Komplexität wird dann durch mehr unkundige Projektmitarbeiter selbst erzeugt.

Hinzu kommt das angepasste Denken innerhalb der Gruppe, als groupthink bezeichnet (Behavioural Insights Team, 2017, 13): 

Most commonly, groupthink refers to the emergence of a middle-ground, non-contentious viewpoint, arising because people are wary of challenging others’ views or of creating conflict.

Das Nicht-mehr-seine-Meinung-Sagen erzeugt enorme Effizienzverluste und Frustrationen.

Ein probates Management-Mittel ist der Beizug von externen Experten. Diese werden beauftragt, das Projekt zu verbessern, aber selten, dieses auch zu kippen. Sie versuchen also, innerhalb der möglicherweise falschen Prämissen, das beste zu machen, den Auftraggeber nicht vor den Kopf zu stossen, sondern eher ihn zu bekräftigen (Nachfolgeaufträge). Da sie aber zu viel kosten, sind sie nach ein paar Präsentationen wieder weg. Als Selbstverteidigung dienen sie allemal: Die Besten waren beteiligt, hoch professionell.

Die meisten IT-Projekte erleben relativ schnell erste Dämpfer, die man noch mit geringem Aufwand beheben kann. Wenn das Projekt dann immer problematischer wird, ist es eben Zeit, den "advocatus diaboli" einzuschalten, der mit allen Mitteln versucht zu erklären, wieso das Projekt scheitert und die Gegenpartei zwingt, gute Argumente für das Projekt zu liefern. Aber dies setzt die obige emotionale Reife voraus, die impliziert, dass man halt ein Projekt auch in den Sand setzen kann. Dies findet aber sehr selten statt, weil das Agency Problem ("Stellvertreter-Problem") auftaucht.

Verzerrungen

Wann ist ein Projekt zum Scheitern verurteilt? Für den festgefahrenen Manager natürlich nie. Die Hinweise sind mehrere: Das Projekt ist stark verspätet, die Zwischenergebnisse sind nicht überzeugend, die Kommunikation mit den Entwicklern ist schwierig, Probleme werden anderen zugeschoben, die Entscheidungen werden Gremien zugewiesen, die Bürokratie wächst, es entstehen Zweifel an den Prämissen, Erwartungen werden nicht erfüllt usw. Es breitet sich Nervosität und Hektik aus; Mitarbeiter werden unsicher und verlassen die Firma. Jede Mikro-Entscheidung in einem Projekt kostet Tausende Franken und benötigen viel Zeit. Wenn der Product-Owner nicht kundig ist, müssen Gremien entscheiden. Das Herumschieben von Entscheidungen ist ein gutes Mass für den Zustand eines Projektes.

Dahin kommt man, weil man notorisch zu optimistisch ist (auch aus Selbsterhaltungstrieb) und planungsgläubig (sowie zuwenig Domain-Knowhow besitzt). Zum "optimism bias" schreibt das Behavioural Insights Team (2017, 5):

In the context of project management this [optimism bias] leads to consistent over-estimation of success and benefit realisation, and under-estimation of cost and time  resources. Much of the miscalculation leading to project over-runs and over-spends occurs during the project planning phase, and so in this context the bias is commonly termed the planning fallacy.

Bei der Planung wird durchaus auf summarische Weise Verzerrungen Rechnung getragen, indem man grosszügige Zuschläge ("fudge factors") ansetzt. Dennoch misslingen die meisten Projekte mit Hinblick auf Leistung, Zeitdauer und Kosten. Man kann sich schon fragen, ob eine Vervierfachung als Puffer von Kosten und Dauer noch mit einer realistischen Planung in Einklang zu bringen ist.

Die psychologischen Verzerrungen, wenn sie nicht akurat bekämpft werden, bestimmen den Verlauf des Projekts. Das Projekt ist meist schon vor der Geburt tot.

Es gibt allerdings Ausnahmen: Das Manhatten-Projekt wurde vom Duo J. Robert Oppenheimer, einem Physik-Aussenseiter, und General Groves, einem in der Militärhierarchie wenig erfolgreichen Ingenieur, zum Erfolg geführt. Goodchild (1982) beschreibt als die hervorragendste Eigenschaft von Groves, dass er genau wusste, was er weiss und kann und was nicht. Das ist heute ein Karrierestopper.

Agency Problem

Das Agency-Problem ergibt sich aus der Informations-Asymmetrie zwischen Agent und Prinzipal, d.h. Untergebenen und Vorgesetzten, speziell zwischen Manager und Verwaltungsrat. Der Vorgesetzte muss sicherstellen, dass der Untergebene das Gewollte macht und nicht nur seine Eigeninteressen verfolgt. Der Untergebene kontrolliert aber weite Strecken der Information. Beim Sunk-Cost-Bias, der Verzerrung aufgrund der emotionalen Bindung an schon verlochte Kosten und deren überflüssigen Einfluss auf Entscheidungen, will man diese uneinbringlichen Kosten nicht verloren geben, hofft sie wieder einzubringen (man danke an den gambler's ruin). Die Anreize des Managers stimmen nicht mehr mit den Zielen des Unternehmens und seiner Anteilseigner überein. Kahnemann (2017, 425) schreibt treffend:
Die »Steigerung des Einsatzes« (escalation of commitment) bei zum Scheitern verurteilen Projekten ist ein Fehler aus der Perspektive der Firma, aber nicht unbedingt aus der Sicht des Managers, der für ein fehlgeschlagenes Projekt zuständig ist und sich damit identifiziert hat. Das Aufgeben des Projekts wird einen dauerhaften Makel in der Erfolgsbilanz des Managers erzeugen, und seinen persönlichen Interessen ist vielleicht am besten gedient, wenn er weiter die Finanzmittel der Organisation aufs Spiel setzt, in der Hoffnung, die ursprüngliche Investition wieder hereinzuholen - oder zumindest in dem Bestreben, den Tag der Abrechnung hinauszuschieben.

Ein solcher Manager ist, so Kahnemann, nicht mehr haltbar und muss ersetzt werden. Oft kommt nicht unbedingt ein fähigerer Manager nach, sondern einer, der nicht mit diesen Sunk-Cost belastet ist. Verwaltungsräte müssen hier über ihren Schatten springen, besonders wenn sie sich zu stark mit dem Manager verbandelt haben. Sie müssen dann die Karte ziehen, auf der steht: Wir sind nicht richtig informiert worden! Das ist aber deshalb problematisch, weil man ja die zwei Hauptdimensionen Gestalten und Kontrollieren bewirtschaftet. Praktischerweise verabschiedet man den Manager, indem man seine grossen Taten lobt und darauf hinweist, dass sich die Anforderungen und der Kontext so radikal verändert haben, dass man ander Qualifikationen braucht.

Fazit

Gartner, ein Informatik-Marktinformation- und Analyse-Anbieter, sagte schon vor Jahren, dass jede, ja jede, Unternehmung eine IT-Unternehmung sei. Damit ist klar, dass die Unternehmensleitung angemessene Spezialisten in der obersten Leitung haben muss. Noch stemmen sich viele Unternehmungen dagegen, solange die "illusion of satisfactory underperformance" weiterhin greift. Man will gar nicht wissen, wieviel besser man sein könnte sondern vergleicht sich mit den ebenfalls selbstzufriedenen Peers. 

Vor dem Projekt definiert man dessen Erfolgswahrscheinlichkeit. Hier sollte absolute Klarheit über die Prämissen herrschen und eine kritische Selbstbefragung oder Fremdanalyse mit Bezug von psychologischen Verzerrungen durchgeführt werden. Experten zu finden, die einem gegen Geld zustimmen, reicht nicht.

Ein taumelndes Projekt einfach neu zu starten wird zwar häufig versucht, es erreicht aber das Ziel nicht. Es braucht die emotionale Reife einer Organisation, vor allem des Managers, ein Scheitern frühzeitig einzugestehen. Nur so bekommt er eine zweite Chance, dem Verwaltungsrat bleiben einschneidende Massnahmen erspart und der Eigner verliert nicht unsinnig viel Geld.

Scheitern ist eine Frage der Kultur. Die meisten Unternehmungen verstehen aber unter Kultur einen Satz von Begriffen ("Innovation", "Kundenfokus", "Fairness", "Selbstverwirklichung" etc.), die die Mitarbeiter, um zwei Uhr früh aufgeschreckt, auswendig hersagen können sollen.



References

Behavioural Insights Team (2017), A review of optimism bias, planning fallacy, sunk cost bias and groupthink in project delivery and organisational decision making, HM Government, London. 
https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/627790/lit-review-exploration-of-behavioural-biases.pdf

Goodchild, P. (1982). J. Robert Oppenheimer eine Bildbiographie. Basel, Boston, Stuttgart: Birkhäuser.

Kahneman, D. (2011). Thinking, fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Kahneman, D. (2017). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Penguin Verlag.

Simon, H. (1947). Administrative behavior : a study of decision-making processes in administrative organizations. New York: Macmillan.


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